Eltern möchten ihr Kind nicht abklären lassen - was nun?
- SIG GmbH Thomas Richter

- vor 5 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
Du kennst die Situation: Du beobachtest ein Kind, das dringend gezielte Unterstützung benötigt, und schlägst den Eltern eine externe Abklärung vor – zum Beispiel beim Schulpsychologischen Dienst (SPD) oder der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP). Doch anstelle von Zustimmung triffst du auf eine Wand des Widerstands.
Dieser Leitfaden ist dein Begleiter für diese herausfordernden Gespräche. Er zeigt dir, wie du die wahren Ursachen des Widerstands verstehst und die Bedenken der Eltern konstruktiv ausräumen kannst.
Das Eisberg-Modell: Warum du die wahren Gründe verstehen musst
Eltern nennen oft rationale Argumente gegen eine Abklärung, wie "Das bringt doch nichts" oder "Wir haben keine Zeit". Die wahren Gründe für ihre Ablehnung liegen jedoch meist unsichtbar unter der Oberfläche – wie bei einem Eisberg.
Die Spitze (sichtbar): Die genannten Argumente.
Unter der Oberfläche (unsichtbar): Die eigentlichen, oft unausgesprochenen Ängste. Dazu gehören negative Bilder von Psychiatrie, die Sorge vor Stigmatisierung, Kontrollverlust oder die Angst vor verletzter Vertraulichkeit.
Dein Ziel ist es nicht, die Argumente an der Spitze zu bekämpfen, sondern die verborgenen Ängste darunter zu erkennen und zu adressieren.
Die 4 häufigsten Ängste – und wie du ihnen proaktiv begegnest
Anstatt auf Widerstand zu warten, kannst du die typischen Bedenken von Eltern direkt und einfühlsam im Gespräch ansprechen.
1. Angst: Falsche Vorstellungen von der Psychiatrie Viele Eltern haben ein Bild von sterilen Kliniken im Kopf, das von Filmen geprägt ist.
Deine Strategie (Entmystifizierung): Beschreibe sachlich, wie eine solche Stelle wirklich aussieht – oft wie eine normale Praxis oder Beratungsstelle. Erkläre den genauen Ablauf eines Erstgesprächs: Wer dabei ist und dass das Hauptziel darin besteht, das Kind gemeinsam besser zu verstehen und zu unterstützen.
2. Angst: Kontrollverlust Eltern befürchten, einen Prozess in Gang zu setzen, den sie nicht mehr steuern können, wie einen "Zug, der nicht mehr anhält".
Deine Strategie (Kontrolle zusichern): Betone klar und deutlich: "Sie als Eltern behalten jederzeit die volle Kontrolle." Jeder einzelne Schritt erfordert ihre Zustimmung, und sie können den Prozess jederzeit beenden.
3. Angst: Unklarer Nutzen der Abklärung Die Frage "Was bringt das meinem Kind und uns konkret?" steht oft im Raum.
Deine Strategie (Konkreten Nutzen aufzeigen): Mach den Nutzen greifbar, indem du anonymisierte Beispiele erzählst.
Nutzen für das Kind: "Danach wussten wir, wie wir X gezielt helfen konnten, was seine Schullaufbahn positiv beeinflusste."
Nutzen für die Eltern: "Die Eltern von Y verstanden danach besser, warum ihr Kind so reagiert, und der Druck zu Hause liess nach."
Nutzen für die Schule: "Für uns als Lehrpersonen war danach klar, welche Unterstützung im Unterricht wirklich hilft."
Ein besonders eindrückliches Beispiel ist das eines Sechstklässlers, bei dem erst durch eine Abklärung festgestellt wurde, dass er schwarze Schrift auf weissem Grund nicht lesen konnte. Die Lösung war simpel – ihm die Unterlagen auf farbiges Papier zu kopieren – aber sie kam leider Jahre zu spät.
4. Angst: Verletzung der Schweigepflicht Die Sorge, dass "danach die ganze Schule Bescheid weiss" und das Kind einen Stempel hat, ist gross.
Deine Strategie (Vertraulichkeit garantieren): Verweise auf die strenge ärztliche Schweigepflicht, die für eine KJP genauso gilt wie für eine Kinderärztin oder einen Kinderarzt. Die Fachstelle informiert die Schule niemals ohne die explizite Entbindung von der Schweigepflicht durch die Eltern.
Strategien für ein entspanntes und überzeugendes Gespräch
Wenn Eltern unter Stress geraten, schaltet ihr Gehirn in den "Kampf-Modus" und ist für logische Argumente nicht mehr empfänglich. Mit diesen Techniken vermeidest du das.
1. Die "Alle Wege auf den Tisch legen"-Methode Anstatt einen Vorschlag zu machen, lade zur gemeinsamen Ideenfindung ein: "Lassen Sie uns einmal ganz neutral alle möglichen Wege, die es gibt, auf den Tisch legen und die Vor- und Nachteile besprechen – ohne uns sofort entscheiden zu müssen." Das reduziert den Druck und du erfährst, welche Bedingungen für die Eltern erfüllt sein müssten, um einer Abklärung zuzustimmen.
2. Pragmatische Argumente
"Es kann nur gleich bleiben oder besser werden." Sprich aus deiner Erfahrung: Eine Abklärung hat noch nie eine Situation verschlechtert. Im schlimmsten Fall bleibt alles wie es ist, aber man verliert nichts.
"Gezielt helfen statt nur Grenzen setzen." Erkläre den Zusammenhang: Ohne genaues Wissen über die Ursachen eines Verhaltens müsst ihr als Schule vielleicht mehr Grenzen setzen. Eine Abklärung ist der Schlüssel, um gezielter helfen zu können und dadurch weniger Grenzen setzen zu müssen.
3. Ängste direkt herausfinden Wenn du nicht an die wahren Sorgen herankommst, nutze die "Worst-Case-Frage":
"Stellen wir uns einmal vor, Sie würden dieser Abklärung zustimmen. Was wäre das absolut Schlimmste, das Ihrer Befürchtung nach passieren könnte?"
Erfahrungsgemäss nennen Eltern hier ihre tiefste Angst, die du dann gezielt entkräften kannst. Frage danach nach dem "Best-Case", um die potenziellen Vorteile hervorzuheben.
Der letzte Schritt: Wenn sich Eltern weiterhin verweigern
Dieses Vorgehen ist nur bei gravierenden Verhaltensweisen und immer in Abstimmung mit der Schulleitung anzuwenden.
Wenn ein Kind dringende Hilfe benötigt und Eltern diese verweigern, hat die Schule eine gesetzliche Pflicht zu handeln. Vergleiche die Situation mit einem medizinischen Notfall wie einer Blutvergiftung: Auch hier wärst du verpflichtet, auf eine ärztliche Untersuchung zu bestehen. Genauso verhält es sich, wenn ein Kind aus psychologischen Gründen massive Hilfe braucht.
Stelle den Eltern in diesem Fall zwei klare Optionen zur Auswahl:
Sie leiten selbst die notwendigen Massnahmen ein und informieren die Schule über die beauftragte Fachperson. Eine partielle Entbindung von der Schweigepflicht (nur zur Terminbestätigung) reicht aus.
Wenn keine Massnahmen eingeleitet werden, ist die Schule gesetzlich verpflichtet, eine Gefährdungsmeldung bei der KESB einzureichen, um sicherzustellen, dass das Kind die notwendige Hilfe erhält.
Es ist oft ratsam, die KESB beratend anzufragen. In sehr schweren Fällen empfiehlt sie, direkt eine Gefährdungsmeldung zu machen - allenfalls mit Vorabinformation an die Eltern.
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